Mit der Rechtfertigung steht oder fällt die Kirche.
1. Warum es bei der Rechtfertigung „um alles“ geht
Mit der Rechtfertigung steht oder fällt die Kirche.
Das sagte und lebte Luther aus.
Und das ist keine Übertreibung. Wenn wir an dieser Stelle auch nur wenig verschieben, verschieben wir die Grundlage unseres Trostes, unseres Gewissens und letztlich unseres Evangeliums.
In einem mir vorliegenden Dokument der Bruderschaft der Christengemeinde wird die Rechtfertigung auf zwei Seiten definiert.
Ich weiß nicht ganz genau, was der Hintergrund war, dass dieses Schreiben veröffentlicht wurde, aber jedenfalls war das Ziel, Missverständnisse zu beseitigen. Daher wurde versucht, die Rechtfertigung so zu definieren, wie sie von der Bruderschaft verstanden wird.
Ich persönlich finde es sehr gut und absolut richtig, zu einer biblischen Lehre Stellung zu nehmen. Und wir als Christen sollten uns niemals scheuen, auch öffentlich unsere Meinung zu sagen oder zu schreiben, da wir doch unser Verständnis aus der Bibel nehmen. Daher verstehe ich oft nicht die Geheimniskrämerei um die eigenen Meinungen oder Lehren. Wenn wir etwas im Gottesdienst lehren (der öffentlich zugänglich ist), so sollten wir auch bereit sein, das gesagte als Schriftstück rausgeben zu können. Und daher begrüße ich die Handlung auch voll.
Auf den ersten Blick klingt darin auch vieles gut: Rechtfertigung aus Gnade, durch den Glauben, gegründet auf Christi Werk.
Wenn wir aber in dem Abschnitt über die „Verwirklichung der Rettung“ und die „Erhaltung der Rechtfertigung“ gehen, verschiebt sich der Schwerpunkt – weg von Christus, hin zu unserem Glauben, unserer Bußfertigkeit und unserem Wandel.
Als mir das Dokument vorgelegt wurde, war ich zuerst verblüfft, dass es so offen kommuniziert und gelehrt wird. Was ich damit sagen will:
Geht es um eine Irrlehre, von der man weiß, dass es eine Irrlehre ist, und man versucht, es zu beschönigen, so verstehe ich, dass versucht wird, es zu verschleiern.
Ist man sich aber sicher, dass es die biblische Lehre ist, warum sollte man sich davor fürchten, sie zu veröffentlichen oder zusammenzufassen? Die Bibel ist auch öffentlich und kein Geheimdokument.
Die ganzen Jahrhunderte haben Gottesmänner Erklärungen zu verschiedenen Glaubenssätzen, Glaubensbekenntnisse und verschiedene Bücher veröffentlicht und ich lese sie heute noch und bin glücklich, dass diese Männer es nicht für sich behalten haben. Und daher ist jede Veröffentlichung der richtige Schritt. Für einen selbst, aber auch für andere Christen.
Aber hier in der Erklärung ist es nicht nur ein kleines Ungleichgewicht, sondern erinnert sehr stark an die Neue Gesetzeslehre von Richard Baxter und weist zugleich Parallelen zum römisch-katholischen Rechtfertigungsverständnis auf. Und das wäre für jede Gemeinde, egal ob sie sich evangelikal, reformiert, baptistisch, mennonitisch oder einfach nur bibeltreu nennt, fatal.
2. Kurz: Was ist biblisch-reformatorische Rechtfertigung?
Bevor ich die Rechtfertigungserklärung angehen will, möchte ich eine positive Definition der Rechtfertigung darlegen. Ich habe einige Aspekte im vorherigen Beitrag angeführt, werde hier aber das Rad nicht neu erfinden und einfach das 1689er Baptistische Glaubensbekenntnis nehmen, da es dort präzise und gut definiert ist. In Kapitel 11 wird es so definiert:
- Gott rechtfertigt aus Gnaden diejenigen, die er wirksam beruft.
- Er tut das, indem er
- ihre Sünden vergibt und
- ihnen die Gerechtigkeit Christi zurechnet – seinen aktiven und passiven Gehorsam – als einzige Grundlage ihrer Annahme.
- Weder der Glaube selbst noch irgendein „evangelischer Gehorsam“ werden als unsere Gerechtigkeit angerechnet.
- Der Glaube ist nur das Instrument, durch das wir Christus empfangen, nicht die Grundlage unserer Gerechtigkeit.
Und: Wer gerechtfertigt ist, fällt nie mehr aus diesem Stand der Rechtfertigung, auch wenn die Gemeinschaft mit Gott durch Sünde getrübt werden kann.
Die Kurzform lautet so:
Grundlage: Christus allein. –> sola Christus
Mittel: Glaube allein. –> sola fide
Wirkung: endgültiger Status vor Gott, unumkehrbar für den wahrhaft Glaubenden.
Heiligung und gute Werke gehören notwendig dazu – aber als Frucht und Beweis der Rechtfertigung, nicht als Mittel, sie zu erhalten oder zu vervollständigen.
3. Was sagt die Bruderschaft? – die kritischen Sätze
Ich möchte zunächst klarstellen: Vieles im Dokument ist richtig und gut – besonders der Teil über die „Seite Gottes“ und die Ablehnung der Rechtfertigung aus Werken des Gesetzes.
Problematisch wird es in Punkt 3 „Die Verwirklichung der Rettung“ und in der Zusammenfassung. Dort lesen wir u. a.:
- „Ist die Rechtfertigung ein einmaliges Ereignis im Leben des Gläubigen?
Nein, denn … Sie wird aber fortwährend verwirklicht durch ein Leben in Heiligung und bußfertiger Gesinnung.“
- „Heiligung und Leben im Geist sind nicht nur Folge der Errettung, sondern auch das Mittel, um die Rechtfertigung bleibend zu erhalten bzw. zu verwirklichen.“
- „Dort, wo bewusst Sünde im Leben belassen wird, fehlt es an biblischem Glauben; damit wird die Grundlage der Rechtfertigung verlassen.“
- „Stellung und Zustand in Christus: (1) Den Heiligen Geist haben und (2) im Geist wandeln stellen zusammen das biblische Verständnis der Errettung dar.“
- Zusammenfassung:
„Die Verwirklichung und Erhaltung im Glauben geschieht dadurch, dass echter Glaube in bußfertiger Haltung und Abkehr von der Sünde sich fortwährend unter das Erlösungswerk Christi stellt.“
Und hier merkt man die Absicht: Man möchte Heiligung ernst nehmen, den billigen Glauben bekämpfen und die Heuchelei ausschließen. Das ist an sich gut und sogar richtig.
Aber die Formulierungen verknüpfen Rechtfertigung und Heiligung so, dass die Rechtfertigung funktional von unserer fortlaufenden Bußfertigkeit und unserem Wandel abhängig wird.
Und das ist das Problem.
4. Biblische Klärung: einmalige Rechtfertigung – fortlaufende Heiligung
Wenn wir uns die Bibel ansehen, merken wir, dass die Schrift klar zwischen diesen beiden Punkten unterscheidet:
- einem einmaligen forensischen Akt Gottes (Rechtfertigung) und
- einem fortlaufenden, inneren Werk Gottes (Heiligung).
4.1 Einmalige Rechtfertigung
- „Da wir nun aus Glauben gerechtfertigt sind, so haben wir Frieden mit Gott …“ (Röm 5,1)
– Perfekt/Präsens: Es ist ein geschehener Akt mit bleibender Folge. - „… jetzt durch sein Blut gerechtfertigt“ (Röm 5,9):
Die Begründung liegt in Christi Blut, nicht in unserem Fortschritt. - „Wer aber keine Werke verrichtet, sondern an den glaubt, der den Gottlosen rechtfertigt, dem wird sein Glaube als Gerechtigkeit angerechnet.“ (Röm 4,5)
Nirgends wird gesagt, dass wir Stück für Stück gerechtfertigt werden, je nachdem, wie bußfertig und gehorsam wir gerade sind. Die Rechtfertigung ist Zurechnung und Erklärung Gottes, nicht ein innerer Reifungsprozess.
4.2 Fortlaufende Heiligung
Texte wie Phil 2,12 oder 2Petr 1,3–11 sprechen von:
- „Verwirklicht eure Rettung.“
- „reichlich gewährt werden“ Eingang ins Reich
- Wachstum in Tugend, Erkenntnis, Liebe
Das sind Heiligungs- und Beharrungs-Texte, keine Lehre über eine gestückelte oder fortschreitende Rechtfertigung. Sie beschreiben, wie sich das Heil im Leben zeigt und entfaltet – nicht, wie Gott Stück für Stück „mehr rechtfertigt“.
Heiligung ist ganz klar:
- Die Frucht der Rechtfertigung
- Der Beweis eines lebendigen Glaubens
- Der Weg, auf dem Gott uns zur Herrlichkeit führt
Aber sie ist nicht das Mittel, durch das Gott unsere Rechtfertigung „bleibend erhält“. Genau das sagt jedoch der Text der Bruderschaft ausdrücklich.
5. Wo die Erklärung der Bruderschaft der Bibel widerspricht
Ich nenne hier einmal die Kernprobleme in einfachen Sätzen:
- Die Frage „Ist Rechtfertigung ein einmaliges Ereignis?“ mit „Nein“ zu beantworten, widerspricht der paulinischen Darstellung (Röm 5,1; Röm 8,30).
Die Schrift kennt einen klaren Zeitpunkt (Bekehrung/Glauben), an dem Gott den Sünder rechtfertigt. Damit ist die Antwort „Nein“ ein klares Widersprechen der frohen Botschaft, also dem Evangelium. (Natürlich kann man sagen, dass hier das Wort „Rechtfertigung“ von der Bruderschaft ja anders definiert wird. Aber genau das ist das Problem: Wenn die Bundesbank 100 € als 100 € definiert, ist jede andere „Definition“ schlicht falsch. Genauso ist es falsch, die biblische Rechtfertigung umzudefinieren. Begriffsumdeutung löst das Problem nicht – sie verschiebt es nur.) - Heiligung und Leben im Geist als „Mittel, um die Rechtfertigung bleibend zu erhalten“ zu bezeichnen, macht unseren Wandel mitentscheidend für unseren Status vor Gott.
Damit rücken gute Werke funktional an die Seite von Christus als Erhaltungs-Bedingung. Auch wenn man sagt, dass Werke nicht mit reinspielen, aber im gleichen Atemzug meint, dass die Werke nach der Rechtfertigung diese beeinflussen und sogar „zerstören“ können, so widerspricht man sich oder ist inkonsequent. - Die Aussage, man „verlasse die Grundlage der Rechtfertigung“, sobald man bewusst Sünde im Leben belässt, vermischt objektive Grundlage und subjektive Glaubenshaltung.
Unsere Grundlage ist Christus allein – unabhängig von der Stärke unseres Glaubens. Unser Friede und unsere Gemeinschaft können zutiefst gestört werden, aber die Grundlage bleibt Christus. - „Den Heiligen Geist haben“ + „im Geist wandeln“ als gemeinsame Definition der Errettung ist unbiblisch eng.
Die Schrift kennt Christen, die fleischlich handeln, auch träge oder rückfällige Christen – und trotzdem nennt sie sie Brüder, Heilige, Erwählte. (1 Kor 3,1–3; Hebr 5,11–14). Wir gehen gerade den 1.Korintherbrief mit der Jugend durch. Erschreckend viele Sünden und Probleme, aber Paulus nennst sie Heilige. - Zusammenfassend liegt der Fokus praktisch auf der Qualität und Konstanz unseres Glaubens („echter Glaube in bußfertiger Haltung“) als entscheidendem Faktor für das Bleiben in der Rechtfertigung.
Damit ist der Schritt nicht mehr groß hin zu der Frage:
„Bin ich noch gerechtfertigt? – Schau auf deine Bußfertigkeit und deinen Wandel.“
Statt der richtigen Antwort:
„Bin ich gerechtfertigt? – Schau auf Christus und seine Gerechtigkeit.“
6. Exkurs: Richard Baxter – Hintergrund und seine Rechtfertigungslehre
Da diese Thematik wie in dem anderen Blogeintrag schon erwähnt sehr an die Diskussion von Richard Baxter und John Owen erinnert, möchte ich einen kleinen Exkurs zu Richard Baxter machen.
6.1 Historischer Hintergrund
Richard Baxter (1615–1691) war ein englischer Puritaner, Pastor in Kidderminster, zutiefst pastoral und um praktische Frömmigkeit bemüht. Er lebte in einer Zeit:
- politischer und religiöser Umwälzungen (Bürgerkrieg, Restauration),
- heftigen Streitigkeiten zwischen strenger reformierter Orthodoxie und antinomianischen Strömungen.
Baxter sah eine große Gefahr zu seiner Zeit: billigen Glauben ohne sichtbare Heiligung. Um dem entgegenzuwirken, „korrigierte“ er die reformierte Bündnistheologie:
- Er war unzufrieden mit der klassischen Lehre von sola fide, die für ihn zu „passiv“ klang.
- Er wollte, dass sincere obedience – aufrichtiger Gehorsam – stärker als Bedingung betont wird.
Damit lehnte er die evangelischen Säulen sola fide und sola gratia ab.
6.2 Baxters Kernpunkt: Gehorsam als Bedingung der (vollen) Rechtfertigung
Ich möchte dazu einige Zitate aus dem Heidelblog nehmen, wo diese Diskussion detaillierter aufgeführt und bewertet wurde. Er bezieht sich auf Baxters Werk Aphorismes of Justification, With their Explication annexed. Wherein also is opened the nature of the Covenants, Satisfaction, Righteousnesse, Faith, Works, etc.
Dort zitiert der Autor Scott Clark Baxter (S. 289–290) über seine doppelte Instrumentalität von Glauben und Werken:
1. Der Glaube allein rechtfertigt, da er alle anderen Teile der Bedingung des neuen Bundes impliziert und umfasst: und steht somit im Gegensatz zu den Werken des Gesetzes oder der persönlichen Gerechtigkeit des alten Bundes.
2. Der Glaube allein rechtfertigt als die große Hauptpflicht des Evangeliums oder als Hauptteil seiner Bedingung, auf die alle anderen in gewisser Weise zurückgeführt werden können.
3. Der Glaube allein rechtfertigt nicht im Gegensatz zu den Werken des Evangeliums, sondern diese Werke rechtfertigen ebenfalls als sekundäre, weniger wichtige Teile der Bedingungen des Bundes.
Das heißt laut dem Autor folgendes:
„Für Baxter bedeutete Glaube unter dem neuen Bund, dass Werke als Mitinstrument der Rechtfertigung dienten. Der einzige Gegensatz zwischen Glauben und Werken bezieht sich auf die Werke des alten Bundes, nicht auf die Werke des Gnadenbundes.“
„Der Glaube ist der erste Teil der Bedingung, aber die Werke sind der zweite, wenn auch untergeordnete Teil der Bedingung des Gnadenbundes. Unter „dem Evangelium“ (dem neuen Bund) erfolgt die Rechtfertigung durch den Glauben und die Werke.“
War sich dessen Baxter bewusst? Ja, sogar sehr, und er schrieb auch darüber in These 74 (S. 291), dass Glaube und Werke „beide in derselben Art von Kausalität rechtfertigen“.
Also das heißt, dass beide gleichermaßen wichtig und wesentlich sind. Und er schrieb dazu: „Ich weiß, dass dies die Lehre ist, gegen die die lautesten Proteste erhoben werden: und dass einige schreien werden: Ketzerei, Papsttum, Sozinianismus! und was nicht alles?“
Also Baxter wusste davon Bescheid, dass es der allgemeinen evangelischen Lehre widerspricht. Also den 5 Soli der Reformation. Aber er begründete es mit dem Argument: „Ich habe darüber gebetet.“ Er schrieb: „Aber ich habe ernsthaft auf meinen Knien um die Führung des Herrn gebeten, bevor ich mich daran wagte …“.
Lieber Leser, ich weiß nicht, ob du das jetzt liest, weil es dich interessiert, du hilfe brauchst oder du nicht mit meinen Ausführungen einverstanden bist. Aber diese Sätze, kennst du sie nicht auch? Entweder selbst gesagt oder dir wurden sie gesagt:
- Ich habe darüber gebetet.
- Die Brüder haben früher darüber gebetet und gefastet, also muss es richtig sein.
- Über dieses Thema wurde gebetet und gefastet, daher kann es nicht gegen Gott sein.
Ich will mich nicht über diese Worte lustig machen, sondern möchte klarstellen, dass diese Worte niemals dazu dienen sollen oder können, die Wahrheit zu verdrehen. Wenn die Bibel ziemlich klar etwas sagt, wir aber durch Gebet meinen, eine andere Meinung zu haben, dann ist immer die Bibel am längeren Hebel. Nicht wir. Nicht unsere Treue. Nicht unsere Frömmigkeit. Wir können nicht die Wahrheit umdeuten.
Wir können es natürlich versuchen.
Das nennt sich dann Irrtum oder Lüge.
Zurück zu Baxter. Er versuchte die Argumentation über Jakobus 2. Das Problem ist hier aber, dass er in der Beweisführung mehr der katholischen Kirche glich als der protestantischen. Für ihn wurde Abraham als Person gerechtfertigt und nicht sein Glaube (in Jakobus 2). Und er lehnte auch die protestantische Lehre ab, dass Paulus mit seinem Wort „Werke“ nicht nur die Zeremonialgesetze meinte, sondern auch die guten Werke. Daher führte dies zur folgenden Erklärung in These 78 (S. 311):
Unsere vollständige Rechtfertigung und unsere ewige Erlösung haben dieselben Bedingungen unsererseits. Aber aufrichtiger Gehorsam ist ohne jeden Zweifel eine Bedingung für unsere Erlösung und damit auch für unsere Rechtfertigung.
Scott Clark schreibt dazu:
Als Baxter die Worte „vollständige Rechtfertigung“ schrieb, war ihm bewusst, dass er damit verschiedene Stufen der Rechtfertigung andeutete, nämlich eine Unterscheidung zwischen der anfänglichen und der endgültigen Rechtfertigung. Daher ergänzte er den Ausdruck mit dem Zusatz „ewige Erlösung“.
Es sieht dann laut Baxter so aus: „Wir sind in diesem Leben durch den Glauben mit Christus verlobt oder verlobt, aber wir werden letztendlich durch den Glauben und ‚aufrichtigen Gehorsam‘ gerechtfertigt.“
Also hier zusammengefasst:
- Errettung durch Werke nicht möglich.
- Wir müssen an Christus glauben und erhalten eine vorläufige Rechtfertigung.
- Die endgültige Rechtfertigung erhalten wir durch den Glauben und den aufrichtigen Gehorsam, also unsere Glaubenswerke nach dem Glauben.
- Ein „Glaube allein“ gibt es bei Baxter nicht.
Ich hoffe, ihr habt die Position von Baxter soweit verstanden. Er hat es nicht mal verschwiegen, zu sagen, dass er Glaube + Werke lehrt. Er war wirklich so ehrlich und hat es sogar definiert.
Aber das Problem besteht meistens in den Situationen, wenn Glaube allein gesagt wird, aber Glaube + Werke explizit gefordert und implizit auch so gelehrt wird.
Baxters Wunsch und Forderung war: mehr Frömmigkeit, mehr Gehorsam und mehr Aufrichtigkeit. Daher diese Umdefinierung.
Genau hier setzt die Parallele zur Bruderschaftserklärung an: Auch dort bleibt die Rechtfertigung formal an Christus und den Glauben gebunden, wird aber funktional davon abhängig gemacht, dass unsere Heiligung und unser Wandel die Rechtfertigung „bleibend erhalten“.
6.3 Parallelen zur Bruderschaftserklärung
Wenn wir nun die Bruderschaftsaussagen danebenlegen, sehen wir strukturelle Ähnlichkeiten:
- Baxter:
Glaube + sincere obedience (aufrichtiger Gehorsam) = Bedingung der vollen Rechtfertigung und des Bleibens in ihr. - Bruderschaft:
Heiligung und Leben im Geist sind … Mittel, um die Rechtfertigung bleibend zu erhalten bzw. zu verwirklichen.
- Baxter:
Unser fortwährender Gehorsam entscheidet mit darüber, ob wir in einem gerechtfertigten Zustand bleiben. - Bruderschaft:
Bewusste Sünde bedeutet, „die Grundlage der Rechtfertigung verlassen“.
In beiden Fällen:
- wird die Rechtfertigung nicht mehr rein forensisch und abgeschlossen verstanden,
- sondern als etwas, das durch unseren Wandel bedingt erhalten wird.
Die Sprache der Bruderschaft ist vorsichtiger als Baxter, aber der Struktur nach bewegt sie sich sehr deutlich in seine Richtung.
Aber da ich schon die katholische Kirche vorher erwähnt habe, möchte ich die Definition von Trient als Vergleich heranziehen.
7. Vergleich mit der römisch-katholischen Lehre (Trient)
Das Konzil von Trient, das als Antwort auf die Reformationsbewegung einberufen wurde (1547, Dekret über die Rechtfertigung) lehrt:
- Rechtfertigung ist ein Prozess der inneren Erneuerung (infundierte Gerechtigkeit), nicht nur eine forensische Erklärung.
- Die empfangene Gerechtigkeit wird durch gute Werke bewahrt und vermehrt:
„… die empfangene Gerechtigkeit wird vor Gott bewahrt und auch vermehrt durch gute Werke …“ (vgl. Kanon 24 / Dekret)
- Wer sagt, gute Werke seien nur Früchte und Zeichen der Rechtfertigung und nicht (mit-)Ursache ihrer Zunahme, sei Anathema.
Außerdem:
- Gnade kann durch schwere Sünde verloren werden; der gerechtfertigte Mensch muss mit seiner Gnade kooperieren, um bis ans Ende „gerechtfertigt zu bleiben“.
Ich empfehle jedem, einmal die Erklärung der römisch-katholischen Kirche zu öffnen und mit seinem eigenen Verständnis zur Rechtfertigung zu vergleichen. Zu finden ist es hier: https://www.unifr.ch/iso/de/assets/public/files/Lehre/Referenztexte/Westkirche/Trient_Rechtfertigung.pdf
Das Problem ist nämlich, dass es sich wirklich sehr fromm und gut anhört und wenn man es so in manchen Gemeinden lesen würde, kaum einer merken würde, dass es von der katholischen Kirche ist. Denn die Worte und die Begründungen hören sich vertraut und gut an.
Aber, lieber Leser, Gegen diese Lehre sind unsere geistlichen Vorfahren aufgestanden! Egal, ob Lutheraner, Calvinist, Mennonit oder Wiedertäufer. Wer sich mit diesen Behauptungen der katholischen Kirche anfreunden kann, ist kein Protestant mehr! So einfach ist es.
7.1 Nähe zur Bruderschaftsaussage
Daher einige Parallelen in der Rechtfertigungserklärung zur römisch-katholischen Kirche:
- Trient: Gerechtigkeit wird durch Werke bewahrt und vermehrt.
- Bruderschaft: Heiligung und Leben im Geist sind Mittel, um die Rechtfertigung „bleibend zu erhalten“ und zu „verwirklichen“.
- Trient: Der Gerechtfertigte verliert die Gnade, wenn er in schwerer Sünde verharrt.
- Bruderschaft: Wer bewusst Sünde im Leben belässt, „verlässt die Grundlage der Rechtfertigung“.
Natürlich gebe ich zu:
- Die Bruderschaft spricht nicht von Verdienst, nicht von zeitlichen Strafen, nicht vom Fegefeuer oder ähnlichem Ballast.
- Die Sprache der Erklärung ist evangelikaler, betont Gnade und Glauben.
Aber strukturell wird Rechtfertigung zu etwas, das:
- empfangen wird durch Glauben,
- dann bewahrt wird durch Heiligung/Gehorsam,
- und bei dauerhafter bewusster Sünde offenbar verloren gehen kann.
Das ist deutlich näher an Trient als an den Reformatoren und deren Definitionen.
8. Mein Schluss:
Es ist wichtig, dass wir zwei Dinge gleichzeitig tun und wo ich trennen möchte:
- Die Sache an sich:
- Ja, diese Rechtfertigungserklärung ist nicht nur „unglücklich formuliert“, sondern enthält klare theologische Fehler.
- Sie verschiebt die Grundlage unseres Heils weg von Christus allein hin zu einem System, in dem unser anhaltender Glaube/Gehorsam als Mittel dient, die Rechtfertigung zu „erhalten“.
- Sie steht damit nicht im Einklang mit der reformatorischen Lehre von sola fide und widerspricht in zentralen Punkten der paulinischen Rechtfertigungslehre.
- Es ist daher ein Problem mit der Definition vorhanden und der dadurch geforderten Auslebung.
- Aber ich liebe die Menschen, die das verfasst haben:
- Viele Brüder, die so etwas unterschreiben, möchten nicht bewusst das Evangelium verfälschen. Das glaube ich von ganzem Herzen, da ich viele dieser Brüder kenne.
- Oft steckt dahinter eine echte Sorge vor Antinomismus, billiger Gnade, Heuchelei. Und das habe ich auch in persönlichen Gesprächen erlebt.
- Viele leben persönlich aus der Gnade, formulieren aber unglücklich oder unreflektiert.
Daher ist meine Erklärung nicht gegen Personen gerichtet auch nicht gegen den Vorstand der Bruderschaft der Christengemeinden. Natürlich werden sich Personen darin angegriffen fühlen.
Aber geht es hier um persönliches Befinden oder um den Kern des Evangeliums?
Wenn ich in meinen Ausführungen falsche Aussagen treffe, wünsche ich mir eine Korrektur, auch wenn es schmerzt.
Aber um des Ansehens willen und um sein Gesicht zu wahren, keine Berichtigung anzunehmen, ist fatal für einen selbst, aber noch mehr für eine Gemeinschaft oder Gemeinde. So ein Verhalten ist unbiblisch. Wir müssen uns gegenseitig korrigieren dürfen, auf Augenhöhe und ohne Ansehen der Person. Wenn das in den Bruderschaften gegeben ist, dann Gott sei Dank.
Abschließend möchte ich zusammenfassen, warum eine richtige Definition der Rechtfertigung so wichtig ist:
- Unsere Rettung ruht nicht auf der Stärke unseres Glaubens,
- nicht auf der Konstanz unserer Bußfertigkeit,
- nicht auf der Reinheit unseres Wandels,
sondern:
auf Christus allein, dessen vollkommener Gehorsam und stellvertretendes Sterben uns zugerechnet wird.
Der Glaube empfängt – er verdient nichts.
Gute Werke, echter Gehorsam, ein Leben in Heiligung sind:
- unverzichtbare Früchte und Kennzeichen eines lebendigen Glaubens,
- niemals aber die Mittel, mit denen wir unsere Rechtfertigung „erhalten“.
Und ich wünsche, dass es dir als Leser geholfen hat.
Wie immer darfst du entweder einen Kommentar hinterlassen oder mir eine E-Mail schreiben.
Liebe Grüße
Simon
Hallo Simon,
ich finde deine Erklärung gut!
Nur in einer Sache bin ich noch nicht ganz sicher wie du es verstehst.
Ist für ein wiedergeborenes Kind Gottes die Gefahr des Abfalls komplett ausgeschlossen, oder gelten die Warnungen vor Verführung und Abfall im N.T. deiner Meinung nicht den Wiederegeborenen?
Liebe Grüße
Andreas
Hallo Andreas,
danke für deinen Kommentar. Und ich weiß das dieses Thema auch ein großer Streitpunkt unter Christen und in vielen Gemeinden ist.
Meine Überzeugung finde ich am besten in dem baptistischen Glaubensbekenntnis von 1689 definiert:
„Diejenigen, die Gott in dem Geliebten angenommen, durch seinen Geist wirksam berufen und geheiligt hat und denen er den kostbaren Glauben seiner Erwählten gegeben hat, können weder ganz noch endgültig aus dem Stand der Gnade fallen, sondern werden darin gewiss bis ans Ende beharren und ewig errettet sein. Denn die Gnadengaben und Berufungen Gottes sind unwiderruflich, weshalb er in ihnen auch fortwährend Glauben, Buße, Liebe, Freude, Hoffnung und all die anderen Gnadengaben des Geistes zur Unsterblichkeit hervorbringt und fördert.“
Ich bin mir bewusst, dass es viele Warnungen und Ermahnungen gibt. Aber ich bin der Meinung, dass auch diese Warnungen an Wiedergeborene, aber auch an Personen in der Gemeinde gerichtet sind, die bekannt gegeben haben, dass sie glauben, aber von denen man als Ältester und Apostel nicht weiß, ob sie tatsächlich im Glauben sind.
Ein Beispiel ist der Hebräerbrief, gerade das 6. Kapitel. Es gibt dazu mind. 12 Auslegungen. Wenn man es einmal von der Sicht des Autors des Briefes betrachten würde, dann kann er nicht in das Herz eines jeden schauen und wissen, ob er ein wahrer Gläubiger ist oder ein Scheingläubiger. Aber die Schnittmenge zwischen einem Gläubigen und einem Scheingläubigen ist so groß, dass man es von außen kaum unterscheiden kann. Beide leben unter dem gleichen Einfluss von Gottes Wort, Wunderwerken und Gottes Geist in der Gemeinde. Was aber sichtbar ist, sind die Früchte. Beide erhalten den „Regen“ (Vers 7), aber einer bringt Früchte, der andere Dornen. Der mit Dornen wird am Ende verbrannt.
Das Bild verwendet der Autor, um den Vers vorher zu erklären (durch das „Denn“ leitet er es ein).
Eine Alternative, zu sagen, dass hier Wiedergeborene gemeint sind, würde die Schlussfolgerung ergeben, dass wir, wenn wir als Christen keine Früchte bringen, verloren gehen. Also nicht als Beweis der Errettung, sondern als Voraussetzung, um in der Errettung zu bleiben. Weil jeder der Wiedergeborenen unter dem gleichen Einfluss lebt, aber einer wendet sich von Gott ab, der andere nicht. Der, der sich abwendet, ist der „schlechte Frucht“ Bringende. Der andere, die „gute Frucht“ bringende. Endgültig wäre es also Errettung = Glaube + Frucht (als Bedingung) und nicht Errettung = Glaube (und Frucht ist das Kennzeichen einer echten Errettung).
Und genau hier gibt es ja den seelsorgerlichen und praktischen Unterschied.
Wenn man überzeugt ist, dass der Wiedergeborene Frucht bringen muss, um in der Errettung zu bleiben, wird man selbst versuchen, die Werke zu bringen, weiß aber nicht, welche tatsächlich ausreichen und ab wann es zum Abfall führen könnte.
Die andere Sicht fordert von einem Christen ebenso Früchte, aber nicht als Voraussetzung, sondern als Kennzeichen. So wie du von deinem Apfelbaum in deinem Garten Äpfel erwartest, weil er ein Apfelbaum IST. Und dieser Baum wird Äpfel tragen, vielleicht nicht die perfekten und voller Fehler, aber laut 1. Johannes bringt jeder Wiedergeborene diese 5–7 Kennzeichen hervor. Aber du musst sie nicht erzwingen.
Der Unterschied zwischen den beiden scheint klein zu sein, ist aber theologisch wie auch soteriologisch groß. Die eine bringt uns in Knechtschaft (habe ich genug geleistet?), die andere befreit (ich darf Früchte bringen, WEIL ich errettet bin aus Gnade).
Aber ja, diese Warnungen aus Hebräer 6 empfinde ich auch, wenn ich es lese. Auch wenn ich weiß, dass ich errettet bin. Aber ich kenne Menschen, die genau das, was in Hebräer 6 steht, gemacht haben: Christus abgesagt. Wenn ich aber aus meinen Erlebnissen und Erfahrungen meine Theologie machen würde, dann könnte ich dazu kommen. Versuche ich aber, die dunklen Bibelstellen im Licht der hellen auszulegen, so ist es viel einfacher und plausibler.
Den entweder nimmst du die dunklen, schweren Stellen und legst damit die hellen, klaren aus, oder andersherum. Es gibt keinen anderen Weg. Jedenfalls habe ich noch keinen Ausleger getroffen, der beides gleichzeitig geglaubt hat: die absolute Sicherheit und gleichzeitig die Möglichkeit des Abfalls.
Aber diese unterschiedliche Sichtweise sollte uns nicht trennen, sondern eher dazu bringen, uns auszutauschen und voneinander zu lernen. Denn ich habe nicht die volle Weisheit und habe ganz sicher meine Vorlieben.
War meine Erklärung in etwa ausreichend, um mich in die calvinistische Ecke zu drängen? 😉
Liebe Grüße
Simon
Hallo Andreas,
ich wollte noch ergänzen, dass ich die Warnungen so verstehe, wie es viele Reformatoren und später auch Männer wie John Owen oder Martyn Lloyd-Jones formuliert haben:
Die Warnungen sind immer echt – Gott droht nicht zum Spaß oder nur hypothetisch.
Die Warnungen sind Mittel der Gnade, nicht Alternativen dazu.
Gott bewahrt seine Kinder, indem er sie durch Verheißungen und Warnungen führt.
Die Warnungen richten sich an die ganze Gemeinde:
Bei den Wiedergeborenen bewirken sie Buße, Gottesfurcht und Wachsamkeit → und so dienen sie ihrer Bewahrung.
Bei den bloßen Bekennern machen sie sichtbar, dass sie in Wahrheit nicht zu Christus gehören.
Das ist für mich der entscheidende Punkt: Es sind keine „nur theoretischen“ Warnungen, sondern echte.
Ein bisschen wie ein Schild an einer Absperrung:
„Wenn du hier drüber steigst, stürzt du in den Abgrund.“
Das Schild sagt nicht, dass du fallen wirst, sondern was passiert, wenn du es tust. Und genau diese Warnung ist das Mittel, das dich davon abhält, darüber zu steigen.
Das Bild ist nicht perfekt, aber ungefähr so meine ich es.
Liebe Grüße
Simon