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#10.4 Darf eine Gemeinde Regeln erstellen? – Martyn Lloyd-Jones über verpflichtende Regeln in Gemeinden

Ich freue mich, dass du hier gelandet bist. Wir befinden uns im vierten Beitrag zu den Gemeinderegeln. Falls du die vorherigen Beiträge nachlesen möchtest, sind sie hier aufgelistet:

Dieser Beitrag baut auf den vorherigen auf. Daher werden in diesem Beitrag viele Dinge nicht noch einmal erklärt oder definiert. Im letzten Beitrag habe ich allgemein etwas zu Römer 14 geschrieben und die Meinung einiger Kommentatoren aufgezeigt. Diesen Beitrag möchte ich jedoch einem besonderen Kommentator widmen, da er mich allgemein am meisten in meinem Leben geprägt hat: Martyn Lloyd-Jones.

Martyn Lloyd-Jones zu Gemeinderegeln

Einer der besten Kommentare dazu sind die Predigten von Martyn Lloyd-Jones zu Römer 14. Leider sind sie nur auf Englisch erhältlich. Daher habe ich die Zitate, die ich aus seinem Buch entnehme, übersetzt.

Zuerst möchte ich seine Meinung zum Recht einer Gemeinde, Regeln aufzustellen, aufzeigen und etwas kommentieren:

Ich möchte klarstellen, dass ich der Meinung bin, dass jede Bewegung oder Gesellschaft das uneingeschränkte Recht hat, ihre eigenen Regeln und Vorschriften aufzustellen, und wenn Sie einer Gesellschaft, einem Club, einer Institution oder einer Bewegung beitreten, ist es Ihre Pflicht, sich an deren Vorschriften zu halten. Wenn Sie mit ihnen nicht einverstanden sind, sollten Sie der Gesellschaft nicht angehören. Aber wenn diese Regeln zu einem wesentlichen Teil der Nachfolge gemacht werden, wenn in irgendeiner Weise suggeriert wird, dass sie ein wesentlicher Teil des christlichen Lebens sind, dann fallen diejenigen, die dies vorschlagen, in die Kategorie, die Paulus verurteilt. Das ist Gesetzlichkeit. ((Lloyd-Jones, 2003, S.48)

Er nenne das also beim Namen: Gesetzlichkeit.

Das ist das Problem, auch wenn es vielfach verneint und bestritten wird. Die Beweggründe sind oft sogar gut und ausgezeichnet:

Wie ich Ihnen bereits sagte, gibt es heute Menschen, die andere mit Regeln und Vorschriften einhegen. Ihre Beweggründe sind ausgezeichnet. Sie sagen: „Du kommst bestimmt in Versuchung, du kommst bestimmt auf die schiefe Bahn, wenn du dich nicht an diese Regeln hältst. Also bringen sie ihre Regeln ein. Wir werden sie zu einer Bedingung für die Mitgliedschaft machen„, sagen sie. (Lloyd-Jones, 2003, S.72)

Einfach klasse die Beobachtung: „Wir werden sie zu einer Bedingung für die Mitgliedschaft machen.“ Genau das geschieht ja auch heute. Das ist also nichts Neues, sondern gab es schon früher.
Und weil er es selbst erlebt hat, sagt er dazu:

Ich selbst bin in einer legalistischen Atmosphäre aufgewachsen. Der Eindruck, den ich in meiner Jugend vom Christentum hatte, war, dass ein Christ jemand ist, der bestimmte Dinge nicht tut. Er trank nicht, er rauchte nicht, er tat keine anderen Dinge, die von den Menschen der Welt getan wurden. Das unvermeidliche Ergebnis einer solchen Einstellung ist, dass man, wenn man einen Menschen sieht, der diese Dinge tut, sagt: ‚Dieser Mensch kann kein Christ sein‘. Diese Regeln sind zum Maßstab geworden, nach dem ein Christ beurteilt wird. (S.48)

Das ist die Folge davon, auch wenn die Beweggründe so gut sind. Es ist Gesetzlichkeit. Und Gesetzlichkeit hört sich so an, als ob ich davon rede, dass Menschen ihr Heil durch Werke verdienen wollen. Nein, das meine ich nicht. Denn Gesetzlichkeit ist nicht allein nur das. Es gibt viele Schattierungen der Gesetzlichkeit, sowie es auch viele Schattierungen der Gesetzlosigkeit, also des Antinomismus, gibt. 
Und diese Gesetzlichkeit zeigt sich eben durch dieses Verhalten. (Zu dem Thema, was Gesetzlichkeit ist, erscheint ein weiterer Beitrag…)

Das Verhalten, das Christen aus anderen Gemeinden als „locker“, „liberal“ oder „verflacht“ bezeichnet werden, oder als nicht so treu oder Ähnliches ist eben auch gesetzlich.

Und deswegen erklärt Lloyd-Jones die Sichtweise des schwachen Bruders, der diese Regeln aufstellt, folgendermaßen:

Sie werden feststellen, dass der stärkere Bruder nicht dazu neigt zu sagen, dass der schwächere Bruder kein Christ ist. „Natürlich ist er ein Christ“, sagt er, „das muss ich wohl zugeben, aber …“ und so verachtet er ihn. Aber das Problem mit dem schwächeren Bruder ist, dass seine Versuchung darin besteht, zu sagen, dass der andere überhaupt kein Christ ist. Er verurteilt ihn, er fällt ein endgültiges Urteil über ihn. Und wenn er in seiner Verurteilung nicht bis zum Äußersten geht, ist er bereit zu sagen, dass es dem anderen auf jeden Fall an Treue zur Wahrheit und an Ernsthaftigkeit als Christ mangelt.

Es ist höchst interessant, dass die Tendenz, andere Christen nach ihrem Verhalten zu beurteilen und in Frage zu stellen, ob sie überhaupt Christen sind, die besondere Schwäche des schwachen Bruders ist, und ich möchte Ihnen das zeigen, damit wir uns darüber im Klaren sind. Diese Tendenz ist fast immer ein Zeichen von Schwäche, nicht von Stärke. Was ist die Erklärung dafür? Ich glaube nicht, dass es schwierig ist, die Antwort zu geben. Es ist allein auf den Geist der Angst zurückzuführen. …

Und weil sein Denken nicht so sehr von der Lehre, sondern von diesem Geist der Angst und dem Bedürfnis, sich selbst zu schützen, gesteuert wird, neigt er ganz natürlich dazu, Regeln und Vorschriften zu vervielfachen.

Aber der schwächere Christ begnügt sich nicht damit, Listen für sich selbst zu erstellen. Weil er es für sich selbst tut, denkt er, dass jeder es auch tun sollte. Er besorgt sich also seine Liste und wendet sie nicht nur auf sich selbst an, sondern auch auf alle anderen, und er will, dass sich alle nach seinen Vorstellungen und seinem Muster richten. Diese Beharrlichkeit ist ganz und gar auf die Tatsache zurückzuführen, dass er ein ängstlicher Geist ist. Er hat solche Angst, dass er beim Fleischessen etwas falsch machen könnte, dass er dazu neigt zu sagen: „Das einzig Sichere ist, alles wegzulassen. Man kann nichts falsch machen, wenn man nur Kräuter isst.

Aufgrund seiner Schwäche im Verständnis des christlichen Glaubens neigt der schwächere Bruder also dazu, zum Gesetzgeber zu werden. Letztendlich beurteilt er die Stellung und die christliche Position der anderen nach diesen Dingen, und nur nach diesen Dingen. Und das ist es, womit sich der Apostel beschäftigt. ((Lloyd-Jones, 2003, S.43-44)

Ich finde es so hilfreich, aus einer Predigt zu lesen, die im Jahre 1967 gehalten wurde und absolut das widerspiegelt, was wir in einigen konservativen Gemeinden sehen.

Denn genau die Art von Argumente werden entgegengebracht. Zum Beispiel wenn man vom Prinzip Sola Scriptura spricht, wird erwidert:

„Die These, nicht über die Schrift hinausgehen zu wollen, klingt zunächst gut. Die Erfahrung zeigt jedoch, dass ihre Verfechter nicht selten bereits nach kurzer Zeit eine deutliche Verflachung in ihrer Denkart erleben und biblisch begründete Handlungsweisen aufzugeben bereit sind.“(Eben-Ezer, 2022, S.169)

Oder wenn man einwendet, dass die Gemeinde nicht die Autorität hat, Regeln zu erstellen:

„Es ist zu befürchten, dass die Anti-Regeln-Mentalität vielfach den bewussten Vorstoß in Richtung Weltlichkeit verschleiern soll.“ (Eben-Ezer, 2022, 164)

Oder wenn man diese Regeln in Frage stellt, wird erwidert:

„Manche Benutzen diese These aber auch um die Weltlichkeit herunterzuspielen: „>>Warum so viel Aufhebens um Frisuren machen, wenn so viele Menschen auf dem Weg in die Hölle sind? << Diese Art von Argument mag fromm klingen, ist aber im Kern sehr fleischlich und selbstbezogen. Jeder, der seine Frisur (oder andere derartige Dinge) mehr liebt als seine Brüder und Schwestern, verkehrt die Eigentliche Priorität in ihr Gegenteil“ (Eben-Ezer, 2022, S.177)

Also genau diese Argumente werden gebracht, um die zu verurteilen, die nicht diese Regel einhalten, oder sie aufgrund des fehlenden Schriftbelegs in Frage stellen.
(Denn gerade die Frage der Frisur ist in der Bibel sehr offen gehalten worden. Richtlinien sind vorhanden, aber sie betreffen nicht die speziellen Arten von Frisuren wie Pferdeschwanz, offene Haare, mit oder ohne Haarkosmetika…)

In der römisch-katholischen Kirche gibt es zum Beispiel auch viele Vorschriften. Und zu deren Regeln sagt Martyn Lloyd-Jones:

Nun ist es nicht nur so, dass römische Katholiken vorschlagen, dass diese Vorschriften gut und hilfreich sein könnten. Nein, das Problem ist, dass sie verpflichtend gemacht werden. Wenn die Leute einen als mangelhaft in der christlichen Nachfolge ansehen, wenn man diese Regeln nicht einhält, fallen sie in die Kategorie, mit der der Apostel hier zu tun hat. Und das gilt nicht nur für den römischen Katholizismus, sondern auch für den englischen Katholizismus und jede andere Art von Pseudo- oder Nachahmung des römischen Katholizismus, von denen es derzeit so viele gibt. (S. 47)

Nicht dass ich konservative Gemeinden mit der römisch-katholischen Kirche gleichsetzen will. Für mich besteht da ein großer Unterschied. Jedoch ist die Handhabe von Regeln und Autorität, die in Anspruch genommen wird, tendenziell sehr ähnlich.

Und hier finde ich die Analyse so treffend, die Lloyd-Jones trifft, indem er genau das beschreibt, was diese Menschen erleben: Diese Menschen werden als  Mangelhalft in der Nachfolge angesehen, weil sie diese Regeln nicht einhalten.

Martyn Lloyd-Jones kritisiert ja nicht das Erstellen der Regeln für sich selbst als Schutz- oder Hilfestellen. Nein, das ist bis zu einem Grad in Ordnung (wenn auch nicht der beste Weg, damit fertig zu werden). Es wird dann zur Gesetzlichkeit, wenn die Regeln für alle anderen verpflichtend gemacht werden.

Zusammenfassend lässt sich Lloyd-Jones Meinung zu Römer 14 und der Anwendung folgendermaßen:

  • Aber (Gemeinde-)Regeln zu einem wesentlichen Teil der Nachfolge gemacht werden, ist das Gesetzlichkeit und wird von Paulus verurteilt
  • Das Erstellen dieser Regel geschieht aus Angst oder Sorge fehlzugehen.
  • Regeln, die so nicht in der Bibel zu finden sind, dürfen für sich selbst aufgestellt werden, aber niemals für andere verpflichtend erstellt werden
  • Das Erstellen von den Regeln, bewirkt, das man die Christliche Stellung oder Heiligkeit des Mitchristen aufgrund diesen Regeln beurteilt

Ich denke das man sieht recht deutlich, was der Ursprung dieses Verhaltens ist und was es bewirkt.

Leider sehe ich keinen Vorteil darin, dass eine Gemeinde diese Art von Regeln aufstellt und fordert. Dadurch werden die Christen nicht zur Mündigkeit erzogen. Natürlich gibt es Ausnahmen, und nicht jeder handelt nur, um anderen zu gefallen. Aber selbst wenn einige diese Regeln aus Überzeugung einhalten, ist das noch immer keine Begründung, sie von anderen zu fordern.

Was passiert aber, wenn sich alle in der Gemeinde entschließen, diese Regeln einzuhalten? Das bespreche ich im nächsten Beitrag: : #10.5 Darf eine Gemeinde Regeln erstellen? – Aber alle haben doch zugestimmt!

Ich freue mich, dass du bis hierhergekommen bist, und würde mich sehr darüber freuen, wenn dir meine Überlegungen etwas geholfen haben. Wenn du Fragen oder Einwände hast, kannst du die Kommentarfunktion nutzen, mich über die E-Mail anschreiben oder mich besuchen kommen. Die Adresse findest du im Impressum. Einen Kaffee und etwas zum Knabbern wirst du sicher erhalten.

Liebe Grüße
Simon


Quellen:

Bruderschaft der EvangeliumsChristen-Baptisten >>Eben-Ezer<< (2022). Ihm in allem wohlgefällig: Biblische Grundsätze eines für Gott abgesonderten Lebens

Grudem, W. A. (2013b). Biblische Dogmatik: eine Einführung in die systematische Theologie. (1.Auflage, 3.Druck) arche-medien

Blue, Ken (2011). Heilung erfahren nach geistlichem Missbrauch. Brunnen Verlag

Peters, B. (2019). Der Brief an die Römer. (1.Auflage) CLV-Verlag

Carson, D., Longman, T. and Garland, D. (2017) Matthew. Zondervan Academic. Available at: https://www.perlego.com/book/560682 (Accessed: 13 June 2024).

Jung, F. & Derksen, H. (2020). Angekommen?!: fünfzig Jahre freikirchliche Russlanddeutsche in Deutschland (1.Auflage 2020). Lichtzeichenverlag GmbH.

Wilkins Bob. What Could Peter Bind or Loose (Matthew 16:19)?.https://faithalone.org/blog/what-could-peter-bind-or-loose-matthew-1619/

Calvin, J. (1997). Unterricht in der christlichen Religion – Institutio Christianae Religionis (6. Aufl.). Neukirchener Verlag. https://www.calvin-institutio.de/display_page.php?elementId=61

Schirrmacher, T. (2001). Der Römerbrief: für Selbststudium und Gruppengespräch Band 2 (2. Aufl.). Revormatorischer Verlag Beese.

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